Die sichtbare Welt

Gerald Hintze

 

ORBIS SENSUALIUM PICTUS
… Die sichtbare Welt

 

Kaum ein Klassiker der Pädagogik verdankt seine Jahrhunderte währende Wirkungsgeschichte und seine heute allseitig behauptete Aktualität und Modernität so brillanten und generellen Mißverständnissen wie Johann Amos Comenius. 1592 in Mähren geboren, war er ein Leben lang Schulmann und Sprachlehrer, Bischof und Pansoph, Geheimdienstdiplomat und Pietist, mosaischer Physiker und politischer Chiliast, Seher und weissagender Prophet.

 

Der „Orbis sensualium pictus, Die sichtbare Welt“ ist nicht nur das berühmteste Werk des Johann Amos Comenius, er war wohl das am meisten verbreitete Schulbuch überhaupt. 1658 in Nürnberg erschienen, setzte sich der Orbis pictus als Schulbuch rasch durch und wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt und in über 250 Ausgaben gedruckt. „… ein Bilderbuch, das man den Kindern selbst in die Hand gäbe, würde Übungen in dieser Muttersprache fördern. Weil in diesem Alter nämlich hauptsächlich die Sinne zur Aufnahme aller auf sie wirkenden Eindrücke geübt werden müssen, der Gesichtssinn unter ihnen aber der wichtigste ist, wäre es gut, man würde ihm die Hauptgegenstände aus Naturkunde, Optik, Astronomie, Geometrie usw. in der Reihenfolge, die wir bezeichnet haben, darbieten. Hier können Berg und Tal, Baum und Vogel, Fisch, Pferd, Rind, Schaf und Mensch von verschiedenem Alter und Wuchs abgebildet werden. Ebenso Licht und Dunkelheit. Der Himmel mit Sonne, Mond, Sternen und Wolken, die Grundfarben; auch die häuslichen und handwerklichen Geräte … ferner die Stände …, und zwar soll immer darüber geschrieben werden, was die Abbildung jeweils darstellt.“ Der „Orbis pictus“ ist die Ausführung dieser Pläne und Comenius schreibt in seiner Vorrede, „ Es ist / wie ihr sehet / ein kleines Büchlein: aber gleichwohl ein kurzer Begriff der ganzen Welt und der ganzen Sprache / voller Figuren und Bildungen / Benahmungen und der Dinge Beschreibungen.“

 

Comenius’ Anschauungsbegriff, der dem „Orbis pictus“ zugrunde liegt, ist freilich nicht im kruden deduktiv-empirischen Sinne zu verstehen, und ebensowenig stützt sich die comenianische Methode der Wirklichkeitserfassung auf einen induktiven Empirismus. Wolfgang Harms hat nachdrücklich darauf aufmerksam gemacht, daß „die zu erfassende Wirklichkeit des Orbis pictus … für dessen Autor … die gottschaffende und daher potentiell bedeutungstragende Welt der Dinge“ ist. Die Welt, die Comenius uns im Orbis pictus vorführt, besteht aus den disiecta membra (zerstreute Teile), die als res (Sache), verbum (Wort) und dazugehörigem Bild, in einem Buch gesammelt, nunmehr die Welt ausmachen. Die Welt des Orbis pictus ist die gemäß des göttlichen Heilsplans zu rettende und erlösende Welt. In seiner Totalität des Weltverständnisses ist Comenius ein barocker Denker. Comenius hat die Weit nicht analytisch zergliedert, sondern vielmehr deren einzelne Teile eingesammelt und im Buch zur „WeIt“ gefügt. Mit diesem Verfahren ist Comenius noch der barocken Welterfahrung verpflichtet. Aus der existentiellen Spannung der Erfahrung einer Totalität der Weit und der Hinfälligkeit und Bedürftigkeit des Vorfindlichen ist Comenius zu einem „Mann der Sehnsucht“ geworden. Im Buch, das mit der Vorsehung (Providentia) und dem Jüngsten Gericht (Judicium Extremum) endet, also eine Richtung und ein Ziel hat, wird die zu rettende Weit gesammelt.

 

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unveröffentlicht: Gerald Hintze für Moderne Reklame, 2000